Fotografie News - Landesverband Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern

  • 17.05.2021 Hintergrundwissen

    Ruth Stoltenberg

    Und das Abbild der Realität in der Fotografie



    Ruth Stoltenberg stellt ihrer Website einen programmatischen Satz von Saul Leiter voran: „Ich mag es, wenn man nicht sicher ist, was man sieht. Wenn man nicht weiß, warum der Fotograf ein Bild gemacht hat und wir nicht wissen, warum wir es anschauen, so entdecken wir plötzlich, dass wir mit dem Sehen beginnen."

    Sie verwendet auf ihrer Website den Begriff Portfolios, sprich den Plural eines Wortes, das bereits im Singular auf Vielfalt verweist. Mit vollem Recht denke ich, denn Ruth Stoltenberg ist eine preisgekrönte Fotografin, die in wenigen Jahren ein Werk geschaffen hat, das gleich mehrere Sammelmappen erfordert, um den höchst unterschiedlichen Themen gerecht zu werden, die sie in ihrer Fotografie aufgreift. Die Frage nach dem Sehen macht sie bei aller Vielfalt in jedem Foto und in jeder Serie auf.

    Das Spektrum umfasst einen sehr persönlichen Blick auf Schengen, einen Ort, der wie kein anderer für die Überwindung nationaler Grenzen in Europa steht. Ebenso marode Gutshäuser in Mecklenburg-Vorpommern, die sie nüchtern und sachlich festhält, sehr bewusst nicht dramatisch im HDR-Stil überhöht. Sie fotografiert die spießig-gemütlichen, fast banal anmutenden Verhörstühle in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen, die man auch in jedem Wohnzimmer hätte  finden können. Ebenso die Idyllen normannischer Dauercamper, die beengt und umzäunt ihr Reich hüten. Immer geht es um die Frage: Was sehe ich und welche Realität steckt dahinter?

    Das Haus in Schengen mit der Aufschrift Liberté, Egalité, Fraternité verrät uns nur in der Serie sein Geheimnis. 71 Bilder umfasst diese Serie mit Bildern der drei benachbarten Länder Frankreich, Deutschland und Luxemburg, die es dem Betrachter ermöglichen, sich selbst „ein Bild“ nationaler Unterschiede in einem vereinten Europa zu machen. Auch den Verhörstuhl aus dem Stasigefängnis erkennt man in seiner Funktion nicht, wenn der Kontext fehlt. Den liefert uns die Fotografin sehr eindrücklich in ihrer konzeptionellen Arbeit mit 80 Bildern und begleitendem Text ehemaliger Inhaftierter, die hier den Foltermethoden des Stasiregimes ausgesetzt waren. Es geht immer auch um die Frage nach dem Sichtbarmachen von Historie.

    Ruth Stoltenberg adressiert mit dem Zitat von Saul Leiter ein großes Thema: Was ist Realität und was sehen wir, wenn wir sehen? Nur wissenschaftlich klassifizierbare Gegenstände oder auch Wahrnehmungen und Vorstellungen? Ist die Welt um uns herum gar eine reine Konstruktion?  Oder ist die Welt  bzw. sind die Dinge an sich existent, aber für den Menschen nicht unmittelbar zugänglich?

    Das Sehen steht zwischen uns und der Welt. Für Ruth Stoltenberg formt sich aus dem Sehen und dem Erkennen Realität. Realität entsteht im Bewusstsein. Der Betrachter ihrer Fotos wird zum Produzenten einer Realität, in dem sie ihn fordert, mit dem „Sehen“ zu beginnen.

    Gerne möchten wir auf  ihre aktuelle Ausstellung über das Stasigefängnis und Haftkrankenhaus im Mahnmal  St. Nikolai in der Willy-Brandt-Straße 60 in Hamburg hinweisen, die hoffentlich nächste Woche eröffnet werden kann.

    Christoph Linzbach

    https://ruthstoltenberg.de/

    https://www.mahnmal-st-nikolai.de/?page_id=18