Fotografie News - Landesverband Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern

  • 10.09.2022 Hintergrundwissen

    Mariupol - das letzte Stadtfest…

    … vor dem Krieg



    Die von Michael Biedowicz und Katharina Alba geleitete Galerie pavlov’s dog schenkte uns in Kooperation mit der Mitkunstzentrale e.V. im SATELLIT in der Weinstraße 11 einen wunderbaren Abend voller Geschichten und Poesie aus einer modernen und lebendigen Stadt, die viele von uns nur als Ort der Zerstörung aus dem Fernsehen kennen. Leben und Vernichtung gehen eine eigentümliche Verbindung ein, die alle Gäste berührt.

    Die Regisseurin  Anna Evgenivna Zhukovets präsentiert ihre Bilderschau über das letzte Stadtfest in Mariupol. Sie erzählt von ihrer mühevollen Anreise, dem Wiedersehen mit Freunden und Verwandten, einem Fest mit Tanzgruppen in traditionellen Trachten und einem Bürgermeister, dem später vorgeworfen wird, die Stadt nicht richtig auf den Krieg vorbereitet zu haben. Sie erzählt von einer modernen Stadt mit ambitionierten Zielen. Man will klimaneutral werden. Die Digitalisierung schreitet mit großen Schritten voran. Darauf ist sie stolz, angesichts der Zerstörung auch heute noch. Sie erinnert an das schreckliche Wüten der Wehrmacht im zweiten Weltkrieg in der Ukraine und an die  verordnete Waffenproduktion in Mariupol für den deutschen Krieg an der Ostfront. Bilder der Vernichtung zeigt sie nicht, aber Aufnahmen voller Melancholie, die irgendwie doch eine Vorahnung vermitteln, von dem was später geschieht. Wir betrachten sie erstaunt mit unserem kriegsgeschädigten Blick. Und sagen: Aha so schön war es dort einmal!

    Sie ist zur Zeit des Besuches 24 Jahre alt. 5 Monate vor dem russischen Angriffskrieg. 7 Jahre hat sie die Stadt und ihre Menschen nicht gesehen. Sie schildert also eine Vorkriegszeit aus einer ganz persönlichen Perspektive. „Ich fotografierte meinen Geburtsort im Unwissen, dass ich Abschied nehme. Das war das letzte Stadtfest von Mariupol. Ein weiteres wird es nicht mehr geben, solange Mariupol nicht befreit und nicht vergessen wird.“ Wie anders als die Bilder der Zerstörung der ständig gleichen Kriegsberichterstattung, die uns suggerieren, das es hier immer schon Zerstörung gegeben hat. Nein es gab sie, die lebendige und moderne Stadt Mariupol, die ein Recht darauf hat, dass wir uns an sie erinnern oder vielleicht in der Zeit des Krieges zum ersten Mal überhaupt wahrnehmen als die Stadt, die vor kurzer Zeit noch  in voller Blüte stand -  vor dem Krieg.

    Drei congeniale Gedichte der Lyrikerin und Herausgeberin Oksana Stomina folgen. Die Autorin belässt es nicht beim Vortrag, sondern ordnet ihre Poesie sorgfältig und ausführlich ein. Gedichte geschrieben aus unmittelbaren Erleben und Empfinden. Ihr Mann ist derzeit in russischer Gefangenschaft. Er gehört zu den Gefangenen des Asow Stahlwerks. Er war Leiter der Mariupoler Hafenverwaltung. Eine anerkannte und sozial engagierte Persönlichkeit. Damit sind die Lügengeschichten Putins über gefangen genommene Nazis und Banditen widerlegt. Ein Briefwechsel mit ihm ist ihr nicht möglich. Dies verarbeitet sie in einem ihrer Gedichte. Oksana Stomina packt wie viele andere an dem Morgen, an dem die Invasoren in Mariupol eintrafen einen kleinen Rucksack: Geld, Papiere, ihr Handy, drei Taschenlampen, Powerbanks und Kabel. Sie will vorbereitet sein auf das, was kommt. Oksana ist 49 Jahre alt. Sie ist eine kleine, fragil wirkende Frau, voller Mut und Durchhaltvermögen. Poetin, Aktivistin und Freiwillige. Eines ihrer Bücher heißt „Der Krieg kommt ohne Einladung – Ukrainische Tagebücher“. Es ist eine eine Sammlung zahlreicher Geschichten einfacher Menschen, die von ihren Erlebnissen berichten. Ihr Mann setzt sie in letzter Minute in das Auto und schickt sie weg. Sie weiß genau, wovon sie schreibt.

    Sie wurde in Mariupol geboren und ihre ganze Familie lebt dort. 8 Jahre lebte sie mit dem Krieg und man „gewöhnte“ sich daran, wie sie selbst in dem Interview sagte, dass sie dem  Information Portal „Human Rights in Ukraine“ der Kharkiv Human Rights Protection Group gibt.  Doch was Putin 2022 befahl,  sprich das wahllose Töten von so vielen Menschen, erlebte sie als eine völlig neue Dimension menschlicher Grausamkeit. „This is medieval cruelty, multiplied by modern possibilities and sick, maniacal ambitions.“ So erzählt sie es auch im SATTELIT in der Weinstrasse in Berlin. Der Raum ist gefüllt bis auf den letzten Platz. Die Gäste lauschen ihrem eindringlichen Augenzeugenbericht, den man mit der Lektüre des Interviews noch vertiefen kann.

    Christoph  Linzbach

    https://khpg.org/en/1608810508
    https://www.instagram.com/annuschek/?hl=de
    https://www.pavlovsdog.org/index.php/upcoming/