Fotografie News - Landesverband Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern

  • 16.11.2022 Hintergrundwissen

    Marylise Vigneau…

    ... und die Poesie der Realität



    Auf der Website der Marylise Vigneau ist als Selbsteinschätzung zu lesen: „Marylise Vigneau is an award winning documentary photographer and author usually based between Austria and Pakistan.“

    Gut beraten sind diejenigen, die neugierig sind auf ihre Fotografie, nicht bei dem stehen zu bleiben und das als zutreffende Charakterisierung zu übernehmen, was sie über sich selbst schreibt. Sie hat weit mehr und vor allem anderes zu bieten.

    Die Editing Challenge Wolfgang Zurborn versus Delphine Bedel, die das Bildmaterial von Marylise Vigneau "It was forever until it was no more" zum Gegenstand hatte, illustrierte anschaulich, wie problematisch die Anwendung bestimmter Kategorien der Fotografie sein kann  und wie bedacht man als Fotografin bei der Verwendung von Texten sein sollte.

    Der Begriff „dokumentarisch“ ist bei Marylise Vigneau, so mein Eindruck, Ausdruck ihres hohen sozialen und politischen Verantwortungsbewusstseins. Das ehrt sie wie Boris Eldagsen, der Moderator dieser wunderbaren Challenge es formulierte, trifft aber nicht wirklich den Wesenskern ihres Werkes. Ihre Sorge und ihre Nöte um politische Verwerfungen schwingen in den Bilder mit, sind aber für mich nicht zentraler Gegenstand der Illustration. Sie ist aus meiner Sicht keine Dokumentarfotografin im engeren Sinne, die Ereignisse und Orte von historischer oder sozialkritischer  Relevanz aufzeichnet. Das Politische schwingt vielmehr als Subtext in ihren Arbeit mit, auch weil es nicht vermeidbar ist.

    Der viel zitierte Satz von Arno Fischer „Wenn ich einen Mann an einer Bushaltestelle fotografiere, muss hinterher auf dem Bild mehr zu sehen sein, als ein Mann, der auf den Bus wartet.“ kommt mir im Laufe der Diskussion über die von Wolfgang Zurborn und Delphine Bedel vorgelegten Buch-Dummies in den Sinn. Ein Riss in einer Brandmauer machte ihn berühmt. Das Bild von Berlin in der Nachkriegszeit wurde entscheidend durch seine  Fotos geprägt. Er machte Bilder, die über die Zeit hinaus wirkten. Im Kern ging es ihm aber um die Beschäftigung mit dem Menschen und seiner Existenz.

    So sehr die Selbsteinschätzung einer Bildautorin geeignet sein kann, den Betrachter der Bilder fehl zu leiten oder eng zu führen so problematisch erschiene mir im Fall der Marylise Vigneau die Praxis, das besprochene Material in einem Bildband mit Untertiteln oder langen faktenzentrierten Begleittexten zu versehen.

    Die Challenge drehte sich vor diesem Hintergrund um die Frage, wie Texte und an welcher Stelle im Bildband platziert, die Wirkung der gezeigten Bilder unangemessen determinieren. Hinweise auf politische Lagen und Entwicklungen können die journalistische Botschaft eines Fotos in einer Tageszeitung erläutern und erklären. Das macht Sinn und ist eingeübte Praxis.

    Ich behaupte, dass eine solche Praxis den Fotos der Marylise Vigneau ihre poetische Qualität rauben würde. Man könnte auch sagen, dem Betrachter den Zugang zu dieser besonderen Qualität versperren würde. Ihre  durchweg poetischen Aufnahmen, die von der Spannung zwischen der abgebildeten Alltagsszenen und Landschaften auf der einen Seite und den im Betrachter evozierten Interpretationsräumen, Stimmungen und Assoziationen auf der anderen Seiten leben, wären damit  ihres Wesenkerns beraubt.

    Marylise Vigneau ist eine Frau der Sprache und Literatur. Daran hängt ihr Herz wie auch an der Fotografie. Selten sieht man ein fotografisches Werk, das fast ausschließlich aus wirkungsstarken Einzelbildern besteht. Unfassbar diese Fülle toller Aufnahme mit bemerkenswerter thematischer Breite. Sie ist in der Lage literarisch höchst anspruchsvolle Texte zu schreiben, die der Qualität ihrer Bilder in nichts nachstehen. Diese setzt sie auf ihre Website an vielen Stellen gelungen ein. Auf das rein faktenorientierte Textmaterial kann wie gesagt verzichtet werden, so meine Meinung. Wenn Marylise Vigneau das anders sieht, spricht das für ihr politisches und soziales Engagement und ihr Gewissen. Und das ehrt sie wie Boris Eldagsen es treffend formuliert hat. Eine sehr besondere Fotografin. Schaut euch die Bilder an!

    Christoph Linzbach

    https://www.marylisevigneau.com/

    https://dfa.photography/post/1511-editing-challenge