Fotografie News - Landesverband Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern

  • 01.07.2023 Wettbewerbs- und Ausstellungshinweise

    Chloe Sherman im f3 freiraum für fotografie


    Der f3 freiraum für fotografie zeigt vom 30. June 2023 bis zum 3. September 2023 Aufnahmen von Chloe Sherman hervorragend kuratiert von Katharina Mouratidi.

    Renegades | San Francisco: Queer Life in the 1990s

    Die Fotografin schreibt auf ihrer Website folgendes: „Während ich in den 1990er Jahren meinen BFA in Fotografie am San Francisco Art Institute absolvierte, begann ich, eine Generation junger Leute im Mission District zu dokumentieren, die sich selbst als queer bezeichnete. Die Miete war erschwinglich und schwule Jugendliche, Ausgestoßene, Künstler und Freigeister wanderten nach San Francisco aus, um Gleichgesinnte zu treffen. Das Gemeinschaftsgefühl war spürbar, als sich ein queerer Kulturwandel abspielte. Bars, Clubs, Tattoo-Läden, Galerien, Cafés, Buchhandlungen und von Frauen geführte Unternehmen blühten auf. (…) Diese Subkultur entstand vor dem Hintergrund der Mainstream-Gesellschaft. Alle auf 35-mm-Film aufgenommenen Fotos aus dieser lebendigen Ära verbinden heutige und zukünftige Generationen mit dem Puls der Stadt in einer einzigartigen Zeit, in der Andersartigkeit und Heimkehr ohne jede Entschuldigung gefeiert wurden.“

    Google gibt die folgende Definition von renegade:
    : a person who deserts a faith, cause, or party.
    : a person who rejects lawful or acceptable behavior.

    Renegades sind Abtrünnige; so vielleicht die „beste“ Übersetzung von Renegade in einem Wort. Das ist der Titel der Ausstellung und zugleich Bezeichnung einer Gruppe Gleichgesinnter, die nach den eigenen Angaben von Cloe Shermann auch die sogenannten Outcasts einschließt. Menschen geben ihre bürgerliche Verortung auf und bilden eine neue Gemeinschaft mit Menschen, die aktiv ausgestoßen und ausgegrenzt werden.

    Chloe Shermann spricht von Renegades und Outcasts. Der Renegade mag ein Outcast sein und umgekehrt. Zwingend ist das nicht. In jedem Fall wird mit beiden Begriffen ein besonderes Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft, ihren Normen und Konventionen beschrieben. Man geht oder wird gegangen, oft fällt beides zusammen.

    Chloe Sherman feiert das Außenseitertum einer bestimmten Epoche an einem bestimmten Ort, sie huldigt den Renegades, ihrer Kultur, Kraft, Dynamik und Lebendigkeit mit ihren Fotografien. Sie erinnert an eine Zeit und eine Stadt in dem Magazin Gigantic mit den Worten: „The ’90s in San Francisco were groundbreaking….The Mission district was the heart of it……We lived usually three or four to a drafty and dark classic San Francisco Victorian flat. It was everything we wanted and more than we could ask for.“

    Die Fotos zeigen zumeist froh gestimmte Menschen, die wahrscheinlich von ihrer Umwelt, von der Mehrheitsgesellschaft in 90er Jahren als fremdartiger wahrgenommen wurden, als das heute der Fall ist. Und die sich außerhalb ihrer Community vielen Anfeindungen und oft Hass ausgesetzt sahen. Leider scheint die Ablehnung aktuell wieder zu wachsen.

    Zur Soziologie abweichenden Verhaltens verfasste der US-amerikanische Soziologe Howard S.Becker sein wohl bekanntestes Werk mit dem Titel: "Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance." Er nimmt dabei nicht die abweichende Person oder deren Handlung in den Mittelpunkt sondern die gesellschaftliche Reaktion. Zugespitzt könnte man die Frage formulieren: Gibt es überhaupt Außenseiter als eine eigenständige sich in ihrem Wesen vom Rest der Gesellschaft grundsätzlich unterscheidende  Gruppe von Menschen oder handelt es hier um zugeschriebene Eigenschaften, Etikettierungen von etwas, dass objektiv nicht vorhanden ist?

    Kaum verwunderlich, dass solche Fragestellungen nach wie vor viel Stoff für wissenschaftliche, aber auch politische Diskurse oft auch politische Diffamierungen  bieten. Das Thema ist also komplexer, als dies bei einer oberflächlichen Betrachtung der Fotos der Cloe Shermann erscheinen mag.

    Wie gehen wir mit Menschen um, die anders als die Norm sind? Geben wir ihnen Raum und Platz in der Mehrheitsgesellschaft, sich zu entfalten? Sehen wir sie als Menschen in einer besonderen Situation oder schreiben wir ihnen gerne mal negative Charaktereigenschaften zu?

    „Außenseiter“ ist ganz sicher nicht als Charakter zu verstehen, sondern als Verhaltensmuster eines Menschen in einer besonderen Situation, die jedem widerfahren kann. Es ist schon viel gewonnen, wenn man sich dies vor Augen führt.

    Die Fotos als Verklärung abzutun, wäre aus meiner Sicht verfehlt. Sie zeigen eine Kraft, Kultur und Lebendigkeit, die ganz sicher im San Francisco der 90er Jahre in dieser Gemeinschaft vorhanden war. Sie zeigen nicht alles, das ist klar, deuten manches nur an.

    Sie sind in jedem Fall ein Aufforderung, sich auf Andersartigkeit im Sinne von anders leben einzulassen. Das tut der eigenen Seele gut. Und tröstet über Momente, in denen man sich ausgeschlossen fühlt, hinweg.

    https://giganticmagazine.com/issue-4-chloe-sherman

    https://fhochdrei.org/